Sieben Drehbücher zum Kurzfilm Friesischer Mittsommer

Der Film ist kurz und wortlos. Aber er erzählt in Minimalform (mindestens) sieben untrennbar verwobene Geschichten:

1. Die Geschichte der friesischen Landschaft

Wir hatten die naive Absicht, ursprüngliche Moorlandschaft gegen moderne Industriearchitektur zu kontrastieren. Aber wir haben keine ursprüngliche friesische Landschaft gefunden. Von der einst endlosen Ödnis der Moore und Salzwiesen blieb ein einziges winziges Stück: das Schwimmende Moor bei Sehestedt. Im Übrigen kann die historische Entwicklung aus Gemälden rekonstruiert werden. Wenig ist geblieben, wie es war. Gewiss, es gibt noch Wattflächen, die sich beim besten Willen nicht eindeichen liessen, dazu einige schmale Vorlandstreifen und vogelreiche Salzwiesen. Dieses verbliebene Scherbenmosaik ist ein Park von nationaler Bedeutung. Und weil der Nationalpark so bedeutend ist, kommen auch viele motorisierte Menschen... Vom Sehestedter Deich sehen wir, mitten im Panorama des schwimmenden Moores, quer über den Jadebusen am Horizont das Kraftwerk und das Containerterminal in Wilhelmshaven.

2. Die Geschichte des friesischen Lebenswandels

Das Gemälde von Hans Bartels zeigt eine Friesentochter um 1900 im Kreis der Fischersfrauen. Am Horizont auf dem Watt liegt ein Boot; um den erwarteten Fang drängt sich dort eine Masse Leiber und Köpfe. Im Vordergrund hocken die Frauen auf dem Strand und sammeln frisch geschlachtete Fische in grosse Weidenkörbe. Tochter Friesland von damals ist eine anmutig derbe Schönheit. Ihr blaues Hemd ist auf der Schulter durchgescheuert von Holzlasten und Hanfseilen. Für den Maler steht sie lange, lange mit dem schweren Korb auf dem Rücken, den friesischen Blick auf den fernen Horizont gerichtet. Was sind hundert Jahre Menschheitsgeschichte? Was sind Gleichberechtigung, Vinyltrikot, Mobilität? Was sind Pille und Kindergeld und Altersheim? Wir sind Maschinenkinder geworden mehr als je zuvor. Wir werden von Maschinen beheizt, ernährt, verfrachtet, informiert, unterhalten und geblendet.

3. Die Geschichte der Fischerei

Zu der Zeit, als Hans Bartels die Fischweiber malte, wurden die meisten Fischer nicht alt. Dennoch war die Fischerei schon damals so alt wie die Menschheit. Heute haben Motorisierung und schweres Gerät den Reichtum des Meeres wie des Moores mit aller Gründlichkeit erschlossen. Das Wachstum ist zu Ende. Die Fischer sind ohne Fisch und ohne Arbeit, die meisten Boote nutzlos geworden. Nicht nur in der Nordsee wird es knapp. Von allen essbaren Fischen des weltweiten Ozeans ist noch ein Zehntel übrig. Tendenz schrumpfend. Der Konflikt ist typisch für Gross-Friesland, aber er ist auch typisch für alle anderen Küstenländer, ob Lofoten oder Chile oder Westafrika. Was bleibt, ist ein hoffnungsloser Konkurrenzkampf mit immer grösseren Schiffen und immer weniger Fischern um immer kleinere Jungfische. Werden nun Fischkäfige, Garnelenbecken, Muschelleinen und Algentanks uns gesund ernähren? Wie weit kann die Seezucht wachsen?

4. Ein maritimes Überholmanöver

Drei grosse Pötte in der Elbmündung. Der Letzte in der Reihe ist neuer, grösser und schneller; auf dem nächsten Bild ist er schon am Zweiten vorbei. Die Schifffahrt erfordert die Anpassung der Gewässer in Tiefe und Breite, Verlauf und Gestalt. Kaum ein Fluss fliesst noch so wie er will. Die grossfriesischen Universalhäfen von Hamburg bis Antwerpen verdoppeln ihren Umschlag alle 15 jahre. Wenn sie sich weiter so alle 15 Jahre verdoppeln, dann wachsen sie in einem Menschenleben noch zusammen zu einem einzigen riesigen Megahafen. Dennoch werden alle diese Verdoppelungen den Friesen nicht viel Arbeit geben, denn die Arbeit tun Maschinen. Unsere Maschinerie ist Hoffnung und Bedrohung in Einem. Auch die Kriegsmaschine ist im vergangenen Jahrhundert über jedes historische Maß hinausgewachsen. Sie verteidigt das Öl und braucht ihren Anteil. Das Öl ist überhaupt das Blut der Maschine. Die Rohre sind ihre Adern, und die Raffinerie ein Mittelding aus Herz und Magen.

5. Liebe und Vermehrung

Die asiatischen Matrosen sehen die schönen Friesentöchter, aber sie dürfen nicht von Bord, damit sie nicht ausbüxen. Die Zeit ist zu kurz! Die Dose bleibt zu, der Fisch bleibt drin, und die Muscheln haben nix zu fressen. Hart is dat Leven an de Waterkant. Der Prozess der Durchmischung ist dennoch unaufhaltsam zwischen den Menschen aller Völker, die heute so leicht um den Erdball fahren können. Einwanderer und Mischlinge haben es nicht immer leicht unter den alteingesessenen Einheimischen. Aber sie erleben oft die spannendsten Geschichten. Ebenso leicht wie die Menschen, so reisen auch Muscheln und Algen, überhaupt alle Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien und Viren, teils als Fracht und teils als Ballast. Die globale Durchmischung des Lebens und der Ökosysteme durch das gewaltige Transportsystem der Zivilisation hat ihre eigene lange Geschichte. Wie die Geschichte des beschleunigten Wachstums der Maschinerie, so ist auch die planetare biologische Vereinheitlichung noch lange nicht zu Ende.

6. Allegorie des Weltwandels

Mutter Erde und Tochter Friesland liefern sich eine Schlammschlacht im Watt. Der Ausgang ist ungewiss. Statt im Watt hätte die Schlammschlacht auch im Nigerdelta gedreht werden können oder im Tal des Gelben Flusses. So wie aus dem friesischen Moor ein Industrieland wurde, so wird nun auch Brasiliens Wald erschlossen, etwa zeitgleich mit den Flächen der Schelfmeere. Bohrtürme, Schiessplätze, Windkraft und Seezucht... Die materiellen Organe der Zivilisation werden bald nicht nur das Watt, sondern die gesamte Nordseefläche füllen. Konkurrenz treibt uns zu immer grösseren Taten. Das Wachstum der Geräte hat die ganze Erde in ein neues geologisches Zeitalter geworfen. Die Energieversorgung der Zukunft muss sich auf Dauer verabschieden von Kohle, Öl und Gas, das haben die Treibhausexperten errechnet. Aber das Wachstum des gesamten Apparates geht weiter, sei es mit Atomkraft oder Windkraft oder Sonnenkraft oder sonstwie. Backstop-Technology, sagen die Ökonomen. Wird noch erfunden.

7. Schöne Aussicht

Mutter Erde spaziert barfuss über Asphalt und Basalt hinaus in die weite blaue Mittsommernacht (mit Blick auf Langeoog). Im Watt blubbern Millionen winzige Krebse. Der harte Deich in Ost-Bense setzt ein klares Zeichen: Schluss mit den verästelten Urformen der Priellandschaft. Im Dunkeln blinkt das Feuer der weltumspannenden Supermaschine. Präsident Grubitzsch hat einmal geschrieben: Nur wenn die Wirtschaft und die Wissenschaft den Schulterschluss schaffen, dann kann die Region ihr Entwicklungspotential voll ausschöpfen. Worin besteht das Potential? Wohin geht die Reise? Ist die Schöpfung bald ausgeschöpft? Was ist mehr wert: das, was wir gewinnen, oder das, was wir opfern? Welche Wahl haben wir? Wir vom Film sind dankbar den Freunden, Förderern und Helfern für Gastfreundschaft, Bilder, Musik und Technik, viel Geduld und die Hilfe vieler Hände.

Georg Hooss
Mai 2003 - Juni 2004